Temp'era dal principio del mattino,
e 'l sol montava 'n sù con quelle stelle
ch'eran con lui quando l'amor divino
mosse di prima quelle cose belle.
möglichst wörtlich
Es war zur Zeit des Morgens,
und die Sonne stieg empor mit jenen Sternen,
die bei ihr waren, als die göttliche Liebe
zuerst jene schönen Dinge in Bewegung setzte.
dichterisch orientiert
Es war früh am Morgen,
die Sonne stieg auf, begleitet von jenen Sternen,
die bei ihr standen, als göttliche Liebe
zuerst die schönen Dinge schuf.
historisch-philologisch präzisiert
Es war morgens früh,
und die Sonne erhob sich mit den Sternen,
die sie begleiteten, als die göttliche Liebe
zuerst jene schönen Dinge in Bewegung setzte.
Philologische Analyse
• „Temp'era“: Elliptische, kontrahierte Form von temp'era (temp'era = tempo era) → „es war die Zeit“.
• „dal principio del mattino“: „vom Anfang des Morgens“; typisch für die mittelalterliche Tageseinteilung – möglicherweise zwischen 6 und 7 Uhr früh (zur Frühlingszeit).
• „'l sol montava 'n sù“: „die Sonne stieg empor“ – klassische Vorstellung vom Sonnenaufgang im Osten, auch metaphorisch für Hoffnung.
• „con quelle stelle“: Verweist auf eine spezifische Sternkonstellation – v.a. das Sternbild Widder (Aries), das mit der Frühlings-Tagundnachtgleiche und damit mit Neuanfang assoziiert ist.
• „ch'eran con lui quando l'amor divino / mosse di prima quelle cose belle“: Anspielung auf Genesis 1, „als die göttliche Liebe“ (amor divino) – eine poetische Paraphrase Gottes – „jene schönen Dinge“ (quelle cose belle) in Bewegung setzte, d.h. die Schöpfung.
• Der Vers folgt einem klassischen terzina-Metrum (Terzine, terza rima: aba, bcb etc.).
Allegorische Bedeutung
• Dante beschreibt nicht nur eine Tageszeit, sondern:
• Die aufgehende Sonne steht allegorisch für Vernunft oder göttliche Erkenntnis, die über den Horizont steigt – möglicherweise sogar für Christus selbst.
• Die Sternkonstellation verweist allegorisch auf die göttliche Ordnung, wie sie bei der Schöpfung herrschte – kosmische Harmonie.
• Der Morgen symbolisiert einen Neuanfang – passend zum Beginn der „Reise durch das Jenseits“.
• Das con quelle stelle verweist auf die ursprüngliche Harmonie der Schöpfung – Dante stellt seine geistige Reise unter den Sterneneinfluss eines wiederhergestellten kosmischen Zustandes.
Theologische und philosophische Dimension
Theologie:
• Der amor divino, die „göttliche Liebe“, ist ein zentraler Begriff aus dem christlichen Neuplatonismus – Gott als die Liebe, die bewegt (vgl. auch Paradiso, Canto XXXIII: „l'amor che move il sole e l'altre stelle“).
• Dies ist eine Anspielung auf die Lehre des Pseudo-Dionysius Areopagita, sowie auf die thomistische Kosmologie: Gott als unbewegter Beweger (motor immobilis) durch Liebe.
Philosophie:
• Auch Aristoteles' Metaphysik spielt hinein, besonders die Idee, dass die Bewegung des Himmels (und also der Welt) durch ein unbewegtes Prinzip erfolgt – bei Dante ist das nicht bloß Ursache, sondern Liebe.
Kosmologie:
• Die Erwähnung des Sternenhimmels als Teil der Schöpfung und Ordnung deutet auf den Einfluss von Boethius (Consolatio Philosophiae) und den Ptolemäischen Kosmos – ein hierarchisch geordnetes Universum, bewegt durch Liebe.
Poetisch-formale Aspekte
• Versmaß: Endecasillabo (elfsilbiger Vers) in terza rima.
• Klangstruktur: Die Reime -ino / -elle sind weich und harmonisch, passend zur Atmosphäre des Morgens und zur spirituellen Hoffnung.
• Symbolik: Licht, Morgen, Sterne, Sonne – klassische Tropen für Erleuchtung, göttliche Ordnung, geistige Reise.
• Epischer Beginn: Der Vers ist bewusst kosmisch und schöpfungsbezogen konzipiert – ähnlich den klassischen Epens (z. B. Aeneis, Odyssee), aber transzendiert diese durch eine christliche Wendung.
Historischer und autobiografischer Kontext
• Datum: Dante datiert die Handlung auf das Jahr 1300, zur Osterzeit. Die Frühlings-Tagundnachtgleiche ist astrologisch mit Widder (Aries) verbunden.
• Alter Dantes: Zu diesem Zeitpunkt war Dante 35 Jahre alt („nel mezzo del cammin di nostra vita“ = Lebensmitte nach biblischem Maß: 70 Jahre → Psalm 90,10).
• Florentinische Krise: Dante steht politisch am Rande des Exils. Der Morgen symbolisiert auch ein inneres Erwachen, eine Neuorientierung.
• Autobiografisch: Der Bezug zur Schöpfung bedeutet auch einen inneren Neuanfang – eine Art spirituelle Re-creatio des Ichs.
Rezeption und Wirkung
• Theologische Wirkung: Spätere Mystiker und Theologen wie Johannes vom Kreuz oder Meister Eckhart adaptierten ähnliche Vorstellungen von göttlicher Bewegung durch Liebe.
• Literarisch: Der Vers inspirierte Generationen von Dichtern – etwa T.S. Eliot (Four Quartets) oder Osip Mandelstam, der über Dantes Himmelsmechanik schrieb.
• Kosmologisch-symbolische Rezeption: Die Stelle wurde häufig ikonographisch interpretiert – etwa in Illustrationen von Botticelli oder Gustave Doré.
• Philosophisch: Der Vers wurde in der Neuzeit (u. a. bei Benedetto Croce, Umberto Eco) als Ausdruck der Verbindung von Philosophie, Poesie und Theologie im mittelalterlichen Weltbild interpretiert.
Karl Bartsch (1832-1888)
Es war die Zeit am Morgenanbeginne,
Auf stieg die Sonn' und jener Sterne Helle,
Die sie begleiteten, als Gottes Minne
Die schöne Welt schuf an der Zeiten Schwelle,
Ludwig Gottfried Blanc (1781-1866)
Es war die Zeit um den Beginn des Morgens,
Die Sonne stieg empor mit dem Geleite
Der Sterne, die mit ihr, als Gottes Liebe
Die schönen Dinge all' zuerst bewegte;
Bartholomäus von Carneri (1821-1909)
Es war die Zeit des Morgen-Anbeginns,
Die Sonn' im Aufgang und von allen Sternen
Begleitet als am Tag, da Gottes Liebe
Bewegung lieh den schönen Erdendingen,
Karl Eitner (1805-1884)
Es war die Zeit, da sich der Morgen anhebt;
Die Sonne stieg empor mit jenen Sternen,
Die mit ihr waren, als die Liebe Gottes
Zuerst die schönen Ding' in Regung brachte,
Friedrich von Falkenhausen (1869-1946)
Es war die Zeit der ersten Morgenstunde,
Die Sonne stieg herauf, mit ihr der Stern,
Der sie geleitet, da zur ersten Runde
So hehre Zier entsandt die Huld des Herrn;
Konrad Falke (1880-1942)
Es war die Zeit der ersten Morgenfrühe;
Die Sonne stieg empor mit jenen Sternen,
Die bei ihr waren, als die Liebe Gottes
Erstmals bewegte all die schönen Dinge:
Otto Gildemeister (1823-1902)
Der Morgen hatt' indessen sich erhoben,
Die Sonne stieg mit dem Gestirn empor,
Das bei ihr war, als Gottes Liebe droben
Zuerst bewegte jenen Wunderchor;
Bernd von Guseck (1803-1871)
Es war des Morgens Anfang schon gemacht,
Die Sonne steig empor mit jenen Sternen,
Die sie begleiten, seit der ew'ge Rath
Der Liebe sie bewegt in Himmelsfernen.
August Kopisch (1799-1853)
Es war die Zeit des Morgenanbeginnes,
Auch stieg die Sonn' empor mit jenen Sternen,
Die bei ihr waren, als göttliche Liebe
Zuerst beweget jene schönen Dinge;
Philalethes (1801-1873)
Die Stunde war es, da der Morgen anbricht,
Und aufwärts stieg die Sonne mit den Sternen,
Die bei ihr standen, als die ew'ge Liebe
Zuerst Bewegung gab dem schönen Weltall,
Georg van Poppel
Es war die Zeit der ersten, Morgenstunde;
Die Sonne stieg herauf im Sternenbilde,
Das um sie stand, da sich die Weltenrunde
In Schwung gesetzt durch Gottes ewige Milde,
Konrad zu Putlitz (1855-1924)
Zur Zeit des Morgenanfangs war es eben,
Die Sonne stieg mit jener Sterne Schar,
Die Gottes Liebe rief zuerst ins Leben,
Als alle Schönheit er zum Licht gebar,
Karl Streckfuß (1823-1895)
Am Morgen war's, die Sonne stieg itzt auf,
Von jenen Sternen, so wie einst, umgeben,
Als Gottes Lieb' aus ödem Nichts herauf
Die schöne Welt berief zu Sein und Leben;
Karl Vossler (1872-1949)
Es war die Stunde aber früh am Morgen,
die Sonne stieg samt allen jenen Sternen,
die um sie waren, als am ersten Tag
aus Schöpfers Liebe herrlich trat das All.
Karl Witte (1800-1883)
Es war die Zeit der ersten Morgenfrühe;
Die Sonne stieg empor mit jenen Sternen,
Die sie begleiteten, als Gottes Liebe
Zuerst bewegte diese schönen Dinge,
Richard Zoozmann 1907 (1863-1934)
Die Zeit wars, als der Morgen sich erhoben.
Die Sonne stieg, vom gleichen Sternenbilde
Umkränzt, als erstmals Gottesliebe droben
Die Welten umschwang durch des Alls Gefilde,