e non mi si partia dinanzi al volto,
anzi 'mpediva tanto il mio cammino,
ch'i' fui per ritornar più volte vòlto.
1. Wörtlich-formal orientiert
Und sie wich nicht von meinem Angesicht,
ja, sie hemmte so sehr meinen Weg,
dass ich mich mehrfach anschickte, umzukehren.
2. Poetisch angeglichen
Und sie wich mir nicht vom Gesicht,
sie versperrte mir so sehr den Pfad,
dass ich mich mehr als einmal zum Rückweg wandte.
3. Philologisch-präzise, analytisch
Und sie entfernte sich nicht von meinem Blick,
vielmehr behinderte sie meinen Gang so sehr,
dass ich mich wiederholt zum Rückzug neigte.
Philologische Analyse
„e non mi si partia dinanzi al volto“
• – partia ist Imperfekt von partire, reflexiv mit Dativ mi: „entfernte sich mir nicht“.
• – dinanzi al volto: „vor dem Gesicht“ – poetisch-metonymisch für „im Sichtfeld“, also als permanente Präsenz.
„anzi ’mpediva tanto il mio cammino“
• – anzi: verstärkendes adversatives Adverb: „ja vielmehr“ (nicht nur war sie da, sie blockierte aktiv).
• – ’mpediva: kontrahierte Form von impediva = „hinderte“, im Imperfekt → andauernde Wirkung.
„ch’i’ fui per ritornar più volte vòlto“
• – fui per: umschreibende Konstruktion = „ich war im Begriff zu…“
• – vòlto: Partizip von volgere – hier im Sinne von: „gewendet“, also eine Bewegung zum Rückzug.
• – più volte: häufigkeitsanzeigend → psychischer Konflikt, wiederholter Rückzugsimpuls.
Allegorische Bedeutung
• Diese Stelle gehört zur berühmten Szene, in der Dante auf die drei Tiere trifft – hier ist es der Leopard, Löwe oder die Wölfin (die Reihenfolge variiert je nach Edition). Die genaue Bestimmung des Tiers in diesen Versen ist in Vers 49-50 („questa bestia“) relevant.
• Die Wölfin (lupa), die hier gemeint ist, steht allegorisch für unersättliche Gier (avarizia) oder generell für Sünde, insbesondere jene, die den Menschen lähmt und am Aufstieg hindert.
• Das Bild der blockierten Sicht und des Wegversperrens verdeutlicht: Der Weg zur Erlösung (symbolisiert durch den „colle“, den sonnenbeschienenen Hügel) ist durch die Begierden und moralische Verirrung blockiert.
• Die ständige Präsenz („non mi si partia“) verweist auf die Beharrlichkeit der Sünde bzw. Versuchung.
Theologische und philosophische Dimension
• Augustinisch-thomistisch gesehen: Der Wille des Menschen ist geschwächt, aber nicht zerstört. Dantes wiederholtes „volgersi indietro“ (sich zum Rückweg wenden) verweist auf die Schwäche des liberum arbitrium (freien Willens), das ohne göttliche Gnade der Sünde unterliegt.
• Die Wölfin verkörpert nach mittelalterlicher theologischer Tradition das Laster der Avaritia, die bei Gregor dem Großen die radix omnium malorum („Wurzel aller Übel“) ist.
• Philosophisch betrachtet: Der Text beschreibt den Zustand der Seele in der confusio zwischen Erkenntnis des Guten (colle = Gott, Licht, Vernunft) und der Ohnmacht, das Böse (symbolisiert durch die Wölfin) zu überwinden.
Poetisch-formale Aspekte
Versmaß:
• Endecasillabo (elfsilbig), typisch für die Commedia.
• Alliteration und Klangstruktur:
• partia / volto / cammino / vòlto – Konsonanten v und l erzeugen ein stockendes, schleppendes Klangbild.
• Der Rhythmus unterstützt semantisch das Erleben eines Widerstands oder Stockens.
Stilmittel:
• Enallage/Metonymie: „al volto“ statt „davanti agli occhi“ – poetisch intensiviert.
• Anadiplose-artige Struktur: Wiederaufnahme durch „anzi“ → dramatische Steigerung.
Historischer und autobiografischer Kontext
• Dantes „comedia“ entstand um 1307–1321 im Exil. Die Szene reflektiert biographisch den seelischen und politischen Zustand Dantes nach seiner Vertreibung aus Florenz.
• Die selva oscura (dunkler Wald) ist das Symbol eines Lebens in der Sünde, das er mit ca. 35 Jahren (Mitte des Lebenswegs – vgl. mezzo del cammin di nostra vita) erreicht hat.
• Die Bestien könnten auch politische Allegorien sein:
• Wölfin → Frankreich/Papsttum,
• Löwe → Hochmut des Adels,
• Leopard → Florentinische Verwirrung und Täuschung.
Rezeption und Wirkung
• In der mittelalterlichen Exegese wurde diese Szene als klassisches Beispiel für den „status naturae lapsae“ gelesen: Der Mensch in seinem gefallenen Zustand braucht göttliche Führung (Vergil) und Gnade (Beatrice).
• Moderne Interpretationen (z. B. Erich Auerbach, T. S. Eliot) sehen in dieser Szene einen symbolischen Beginn des modernen Subjektbewusstseins – der Mensch erkennt seine Krise und sucht Orientierung.
• Literarisch diente diese Stelle als Vorbild für:
• die psychologische „Reise“ des Ich in Goethe, Joyce, Eliot;
• die Formulierung existenzieller Umkehr und Buße in Literatur und Theologie;
• viele psychoanalytische Lesarten (z. B. Jung, Hillman) zur Konfrontation mit dem „Schatten“ (Wölfin).
Karl Bartsch (1832-1888)
Das wich vor meinem Angesicht nicht wieder,
So daß ich hielt in meinem Wandern inne
Und oft an Rückkehr dacht' ins Thal hernieder.
Ludwig Gottfried Blanc (1781-1866)
Und das nicht wich vor meinem Angesicht,
Vielmehr den Weg mir so behinderte,
Daß mehrmals ich zur Rückkehr schon mich wandte.
Bartholomäus von Carneri (1821-1909)
Von meinen Blicken war's nicht wegzubringen,
Als hätt' es vor, am Schreiten mich zu hemmen,
So daß ich wiederholt schon wollte wenden.
Karl Eitner (1805-1884)
Und eher nicht ging er mir aus den Augen,
Bis er mich so am Weitergehen gehindert,
Daß mehrmals ich der Umkehr willens war.
Friedrich von Falkenhausen (1869-1946)
Nicht aus den Augen wich er, allerenden
Den Weg mir sperrend, daß hinab zum Grunde
Ich mehr als einmal mußt' am Ende wenden.
Konrad Falke (1880-1942)
Und nicht entfernt' er mir sich aus den Augen;
Vielmehr versperrt' er also meinen Pfad mir,
Daß ich zur Umkehr mehrfach stand gewendet.
Otto Gildemeister (1823-1902)
Und immer blieb es mir vor Augen stehn,
Ja, sperrte mir so sehr den Weg nach oben,
Daß oftmals ich beschloß zurückzugehn.
Bernd von Guseck (1803-1871)
Und wich mir nicht vom Angesicht und fing
Mir zu versperren an so sehr den Pfad,
Daß ich zurück schon mehrmals wieder ging.
August Kopisch (1799-1853)
Und nicht hinweg wich es vor meinem Antlitz;
Nein, es vertrat mir also meine Straße,
Daß mehrmals ich gewendet war zur Umkehr.
Philalethes (1801-1873)
Es wollte nie vor meinem Antlitz weichen,
Ja, schien den Weg mir also zu versperren,
Daß ich mich öfter schon zur Rückkehr wandte.
Georg van Poppel
Er wollte mir nicht aus den Augen schleichen,
Ja, hemmte mir den Gang, daß ich, zum Grunde
Mehrmals gedrängt, zur Rückkehr mußte weichen.
Konrad zu Putlitz (1855-1924)
Nicht aus dem Angesichte wich es mir,
So daß nach aufwärts mir kein Raum gegeben,
Zur Rückkehr meines Wegs bewog's mich schier. -
Karl Streckfuß (1823-1895)
Nicht wich's von meinem Angesichte wieder,
Und also hemmt es meinen weitern Lauf,
Daß ich mich öfters wandt' ins Tal hernieder.
Karl Vossler (1872-1949)
im Hin und Her mir immer vors Gesicht
und stört und hindert meinen Aufstieg so,
daß ich schon wankend wieder weichen wollte.
Karl Witte (1800-1883)
Vor meinen Augen wich das Untier nimmer
Und störte mich so sehr in meinem Wege,
Daß mehrmals schon zur Umkehr ich mich wandte. 36
Richard Zoozmann 1907 (1863-1934)
Der wich vor meinem Angesicht nicht wieder;
Nein, hemmte so mich, daß ich, statt nach oben,
Mehrmals aufs neu zum Walde wollte nieder.