Ed ecco, quasi al cominciar de l’erta,
una lonza leggera e presta molto,
che di pel macolato era coverta;
poetisch frei
Und sieh! Gleich zu Beginn des steilen Weges
sprang eine flinke, schlanke Pantherin hervor,
ihr Fell war über und über gefleckt.
bildreich und dynamisch
Da tauchte — kaum hatte der Anstieg begonnen —
eine geschmeidige, flinke Raubkatze auf,
mit schimmerndem, geflecktem Fell bedeckt.
wörtlich und nüchtern
Und siehe, fast am Anfang des Steilhangs
eine flinke und sehr schnelle Luchsin,
die mit geflecktem Fell bedeckt war.
1. Philologisch und semantisch
• „Ed ecco“: Typischer Ausdruck für plötzliche Erscheinung in der epischen Tradition; dramatisch wie eine Bühnenanweisung: „Und siehe da“.
• „quasi al cominciar de l’erta“: „fast am Anfang des steilen Weges“. „Erta“ (Anstieg, Steigung) verweist sowohl wörtlich auf den Hügel als auch symbolisch auf den Weg zur Läuterung.
• „una lonza“: Uneindeutiges Tier, traditionell als Pantherin, Leopardin oder Luchsin gedeutet. Die Unsicherheit ist möglicherweise intentional – sie symbolisiert das Trügerische, das Begehrliche.
• „leggera e presta molto“: „leicht und sehr schnell“. Betonung auf Agilität, Unerfassbarkeit – könnte für fleischliche Begierde, Sinnlichkeit oder Oberflächlichkeit stehen.
• „di pel macolato“: „mit geflecktem Fell“. Das Attribut der Flecken deutet auf Vielfalt, Verführung, Maskierung – das Animalische in seiner uneinheitlichen Gestalt.
2. Allegorische Deutung
Die Lonza ist Teil der berühmten Drei-Tier-Allegorie:
• Lonza (Raubkatze) = Sinneslust, Wollust oder Verführungskraft
• Leone (Löwe) = Hochmut oder Gewalt
• Lupa (Wölfin) = Habgier oder allgemeine Sünde
• Bereits in den ersten 30 Versen befindet sich Dante in einem dunklen Wald (symbolisch: geistiger Irrweg), nun erscheint das erste Hindernis: die Lonza als Verkörperung sinnlicher Versuchung. Ihre Erscheinung am „Beginn des Anstiegs“ markiert, dass man auf dem Weg zur Läuterung zunächst mit den niedrigsten Lastern konfrontiert wird.
3. Theologisch-symbolisch
Die geflickte Erscheinung (macolato) hat in der mittelalterlichen Symbolsprache eine doppelte Funktion:
• Schönheit und Gefahr, ähnlich der Eva-Gestalt: verführerisch, aber gefährlich.
• Könnte eine Anspielung auf die "Splendores mundi", die glänzenden, aber trügerischen Freuden der Welt sein (vgl. Ecclesiastes 2).
4. Poetisch-rhetorisch
• Die Reime „erta – coperta“ verbinden die Idee des Weges (erta) mit der Bedeckung/Fassade des Tieres (coperta): Der Weg zur Selbsterkenntnis ist zunächst verdeckt durch trügerische Erscheinungen.
• Das Metrum (Terzinen) verstärkt die Spannung: Ein ruhiger Beginn (31), eine plötzliche Bedrohung (32), dann das Bild (33).
5. Historisch-literarisch
Die Pantherin hat eine Tradition in der antiken und mittelalterlichen Symbolik:
• Bei Plinius d. Älteren: Der Duft ihres Atems zieht Tiere an – eine Parabel für verführerische Rhetorik oder Luxus.
• In Bestiarien: Pantherin als Symbol der Täuschung, da ihr Duft Freundlichkeit vorgaukelt, aber sie Raubtier bleibt.