così l'animo mio, ch'ancor fuggiva,
si volse a retro a rimirar lo passo
che non lasciò già mai persona viva.
1. So wandte sich meine Seele, die noch immer floh,
um, um erneut auf den Pass zu blicken,
der nie einen lebenden Menschen verließ.
2. So wandte sich meine Seele, die noch floh,
zurück, um den Weg zu betrachten,
den niemals ein Lebender verließ.
3. So wandte sich meine Seele, die noch floh,
zurück, um den Durchgang zu betrachten,
den nie ein Lebender durchschritt.
Philologische Analyse
• „così“ – „so“, verweist anaphorisch auf die vorangehende Bewegung aus Angst (die Flucht vor der Luchs, Löwe, Wölfin).
• „l’animo mio“ – wörtlich: „mein Geist / meine Seele“. „Animo“ bezeichnet nicht einfach „Gedanke“, sondern die gesamte innere Bewegtheit der Person, oft auch in psychologischer wie spiritueller Hinsicht.
• „ch’ancor fuggiva“ – das Partizip „fuggiva“ („noch floh“) zeigt einen Zustand der andauernden Angst: die Seele ist noch nicht zur Ruhe gekommen.
• „si volse a retro“ – reflexiv: „wandte sich zurück“. Die Wendung „a retro“ ist archaisch und betont das bewusste, fast rituelle Zurückblicken.
• „rimirar lo passo“ – „den Schritt / Durchgang betrachten“. „Rimirar“ (intensivierte Form von „mirar“) betont das wiederholende, tiefgehende Schauen – mit kontemplativer Qualität. „Lo passo“ ist mehrdeutig: einerseits konkret der physische Pfad (das Tal), andererseits metonymisch der Übergang in einen existenziellen Zustand (Sünde, Tod).
• „che non lasciò già mai persona viva“ – eine episch gravitätische Wendung. „Già mai“ ist eine emphatische Verneinung (niemals je), „persona viva“ stellt eine absolute Grenze zwischen Leben und Tod dar – ein Rückblick auf eine existenzielle Todesgrenze.
Allegorische Bedeutung
• Diese Verse stehen im Zentrum der allegorischen Grundstruktur des ganzen Inferno:
• Der „passo“ ist nicht nur ein geographischer Weg, sondern symbolisiert den Übergang vom moralisch irrenden Leben zur Selbsterkenntnis.
• Die Wendung „che non lasciò già mai persona viva“ verweist allegorisch auf den Abstieg in die Hölle – ein Weg, den kein Lebender (außer Dante, als Ausnahmefigur) durchquert.
• Das Zurückblicken ist ein Bild für die rückblickende Selbstreflexion: der Mensch erkennt rückwirkend seine Fehlwege (die verlorene „diritta via“).
• Die Flucht der Seele vor den symbolischen Tieren (Wollust, Stolz, Gier) bringt den Pilger an den Punkt der Entscheidung: Umkehr oder Verlorenheit.
Theologische und philosophische Dimension
Theologisch:
• Die Verse thematisieren den Zustand des postlapsarischen Menschen – der Mensch nach dem Sündenfall, gefangen zwischen göttlicher Gnade und eigener Schwäche.
• Die „Seele, die flieht“, spiegelt Augustinus’ Gedanken über die concupiscentia, die ungerichtete Begierde.
• Das „Zurückblicken“ kann als Akt der contritio gelesen werden – die Reue vor dem Eintritt in den Bußweg.
Philosophisch:
• Die Szene illustriert den platonisch-aristotelischen Gedanken, dass Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Weisheit ist (gnōthi seautón).
• Der „passo“ ist ein existentiales Symbol: die Konfrontation mit dem eigenen Abgrund.
• In thomistischer Tradition könnte man sagen: Die intellectus agens (aktiver Intellekt) richtet sich neu aus, indem er sich rückbesinnt auf das Wahre.
Poetisch-formale Aspekte
• Versmaß: Endecasillabo (elfsilbige Verse), typisch für die Commedia. Der Gleichklang zwischen den Versen 25–27 verstärkt die Gravität der Szene.
• Terzine-Struktur: Diese Terzine bildet eine inhaltlich abgeschlossene Einheit mit rhetorischem Crescendo.
• Klangfiguren:
• Alliteration: „persona viva“, „si volse a retro a rimirar lo passo“ – erzeugt fließenden, meditativ-nachdenklichen Ton.
• Der Rhythmus verlangsamt sich in dieser Passage, was den Akt der kontemplativen Rückschau betont.
• Kontraststruktur: Die Bewegung der Seele „fleeing“ und dann „returning to look back“ steht für das dialektische Wechselspiel zwischen Angst und Erkenntnis.
Historischer und autobiografischer Kontext
Historisch:
• Die Szene steht in Verbindung zur mittelalterlichen Visio-Literatur (z. B. Visio Tnugdali), in der Lebende symbolisch die Totenreiche durchschreiten.
• Die Idee eines spirituellen Rückblicks zur Selbsterkenntnis ist stark beeinflusst durch Augustinus’ Confessiones.
Autobiografisch:
• Dante verarbeitete hier seine persönliche Lebenskrise (Exil, politische Niederlage, moralische Selbstzweifel).
• Das Jahr 1300 ist als „Mittelpunktsjahr“ seines Lebens (vgl. Ps 90:10 – Lebensalter 70 Jahre) symbolisch: „Nel mezzo del cammin di nostra vita“.
• Der „passo“ steht auch für den metaphorischen „Todespunkt“ in Dantes Existenz – sein seelisches Abgleiten in Verlorenheit und die mögliche Rettung durch göttliche Führung.
Rezeption und Wirkung
Mittelalter und Renaissance:
• Petrarca bewunderte Dantes Fähigkeit, inneres Erleben allegorisch zu objektivieren.
• Boccaccio identifizierte diesen Rückblick als Wendepunkt, an dem der göttliche Plan (Virgils Sendung) einsetzt.
Moderne Literatur:
• T. S. Eliot in The Waste Land und Four Quartets nutzt die Idee des Rückblicks zur Selbsterkenntnis als zentrales Motiv.
• Samuel Beckett paraphrasiert diesen Vers in The Unnamable: „You must go on, I can't go on, I'll go on“ – das paradoxe Fortgehen nach der Rückschau.
Psychologische Deutungen:
• In der Tiefenpsychologie (C. G. Jung) ist der „Rückblick“ ein archetypischer Schritt in der Individuation – die Konfrontation mit dem Schatten (dargestellt durch die Tiere) als Voraussetzung der Selbstwerdung.
Karl Bartsch (1832-1888)
So wandt' im Fliehn vom Ort, den ich betrat,
Mein Geist sich rückwärts, nach der Felsschlucht sehend,
Die lebend Keiner ließ, der ihr genaht.
Ludwig Gottfried Blanc (1781-1866)
So wandte sich mein Geist, der auf der Flucht noch,
Wieder zurück die Bergschlucht zu betrachten,
Die nie den Menschen lebend noch entließ.
Bartholomäus von Carneri (1821-1909)
Also mein Geist, noch auf der Flucht begriffen,
Zurück sah, zu besehn den bösen Engpaß,
Den niemals noch ein Lebender verlassen.
Karl Eitner (1805-1884)
So wendete mein Geist, in steter Flucht,
Sich rückwärts, um den Pfad sich zu beschauen,
Der Keinem jemals lebend noch entließ.
Friedrich von Falkenhausen (1869-1946)
So hat mein Sinn den Blick zurückgesendet,
Ein Flüchtling noch, zu jenem Engpaß wieder,
Den Weg, den kein Lebendiger vollendet.
Konrad Falke (1880-1942)
So kehrte auch mein Geist, ob er schon fortfloh,
Staunend sich hinter sich, zu schau'n den Durchpaß,
Der keinen je noch ließ am Leben bleiben.
Otto Gildemeister (1823-1902)
So wandte mein Gemüt, noch flüchtend immer,
Sich um nach jenem Passe voll Gefahr;
Denn ein Lebendiger verließ ihn nimmer.
Bernd von Guseck (1803-1871)
Sah ich im Geiste, der noch immer floh,
Zurück nach jenem Passe, dessen Hut
Noch kein Lebendiger entgangen so.
August Kopisch (1799-1853)
So wandte sich mein Geist, noch immer fliehend
Zurücke, zu betrachten jene Straße,
Die keinen je lebendig bleiben lassen.
Philalethes (1801-1873)
So wandte sich mein Geist, noch immer fliehend
Zurück, den engen Durchgang zu betrachten,
Den nie ein Wesen lebend noch verlassen.
Georg van Poppel
Hat fliehend auch mein Geist zurückgesendet
Noch einen Blick, den Engpaß zu betrachten,
Den zu durchziehn kein Lebender vollendet.
Konrad zu Putlitz (1855-1924)
(Noch auf der Flucht, als könn`er sich nicht fassen),
Nach jener Schlucht im unwegsamen Wald,
Die nie ein Wesen lebend noch verlassen.
Karl Streckfuß (1823-1895)
So kehr't ich, noch mit halberstorbnem Mut,
Mich jetzt zurück, nach jenem Passe sehend,
Der jeglichem verlöscht des Lebens Glut.
Karl Vossler (1872-1949)
so wandte sich, noch immer weiter fliehend,
mein Sinn, die Schlucht noch einmal zu bestaunen,
die keinen mit dem Leben je entließ.
Karl Witte (1800-1883)
So wandte sich mein Geist, noch immer fliehend,
Zurück, um zu beschaun die dunkle Talschlucht,
Die keinen, der drin weilt, lebendig ließ. -
Richard Zoozmann 1907 (1863-1934)
So wandte auch, noch immer fluchtbewogen,
Mein Geist sich rückwärts, auf den Engpaß blickend,
Draus nie ein Wesen lebend heimgezogen.