1 A D E G I K L M R S T V W

Inferno 01 / 022-024

dante inferno 1

E come quei che con lena affannata,
uscito fuor del pelago a la riva,
si volge a l'acqua perigliosa e guata,

Und wie einer, der mit schwerem Atem,
der aus dem Meer ans Ufer gekommen ist,
sich dem gefährlichen Wasser zuwendet und blickt,

Philologische Analyse

• "lena affannata": „lena“ (von lat. anhelitus) meint den „Atem“, „affannata“ (von affannare = keuchen) beschreibt einen Zustand der Erschöpfung. Zusammen evoziert es das Bild eines Menschen, der schwer atmend dem Tod entgangen ist.
• "pelago": ein gehobener Ausdruck für „Meer“ oder „offene See“, aus dem Lateinischen pelagus. Steht oft metaphorisch für das chaotische oder sündhafte Leben.
• "guata": archaische Form von guardare – „blickt“ oder „schaut“. Die Form hat eine gewisse Härte und Unmittelbarkeit, die das Geschehen eindrücklich macht.
• Die Lexik ist durchzogen von Begriffen, die Gefahr, Not und Übergang (zwischen Leben und Tod, Ordnung und Chaos) markieren. Die Syntax der Periphrase verstärkt das Pathos.

Allegorische Bedeutung

• Diese Verse stehen allegorisch für das Überleben eines geistigen Sturms, für das Entkommen aus einem Zustand der Sünde oder Verlorenheit:
• Der Schiffbrüchige ist Dante selbst – allegorisch der homo viator, der Mensch auf der Reise zur Erlösung.
• Das Meer steht für das sündhafte Leben, die Verirrung, das Chaos der Welt ohne göttliche Ordnung.
• Das Ufer markiert einen Ort der (vorläufigen) Sicherheit oder der Selbsterkenntnis, ein Wendepunkt.
→ Das Bild enthält auch eine Rückwendung zum Ursprung des Übels: Der Mensch erkennt seine Gefährdung, indem er zurückblickt auf das, woraus er gerade entkommen ist – ein Moment existenzieller Selbsterkenntnis.

Theologische und philosophische Dimension

• Augustinische Anthropologie: Der Mensch ist verstrickt in das mare peccati, das Meer der Sünde. Das „Atemholen“ des Entkommenden evoziert das Spiritus-Motiv, das pneumatologische Prinzip göttlicher Gnade. Nur durch göttliche Hilfe kann man diesem Zustand entkommen.
• Thomistische Ethik: Der Mensch handelt aus freiem Willen, erkennt aber durch die Vernunft die Gefährlichkeit seines Zustands. Die Szene beschreibt ein Moment moralischer Einsicht – conversio moralis.
• Philosophisch: Das Bild ist ein Archetypus des Übergangs von Unwissenheit zu Selbsterkenntnis (Platonisch: anamnesis). Der Blick zurück ist der erste Schritt in einer Umkehrbewegung (metanoia).

Poetisch-formale Aspekte

• Vergleichsstruktur: Der klassische simile (wie einer, der…) gibt dem Geschehen Dramatik und Körperlichkeit.
• Alliteration: lena affannata – der Lautfluss unterstreicht das Keuchen, die Anstrengung.
• Enjambement: Die Verse sind stark miteinander verknüpft – ein dichter Fluss, der die Atemlosigkeit spiegelt.
• Dreischritt: typisch für Dante: Bewegung – Ort – Reflexion.
• Die poetische Struktur betont den inneren wie äußeren Übergang: von Gefahr zur Sicherheit, von Verlorenheit zur Reflexion.

Historischer und autobiografischer Kontext

• Dantes Exil (1302): Diese Szene spiegelt realhistorisch Dantes eigene Situation nach der Verbannung aus Florenz. Er sieht sich als einer, der nur knapp einem „geistigen Schiffbruch“ entronnen ist.
• Literarische Topoi: Der Vergleich mit einem Schiffsbrüchigen hat klassische Vorbilder: etwa in Vergils Aeneis (z.B. Buch I, Aeneas’ Schiffbruch) oder in Ovids Tristia.
• Christliches Pilgerbild: Die Vorstellung des Lebens als gefährliche Reise hat tiefe mittelalterliche Wurzeln (vgl. Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum).

Rezeption und Wirkung

• Petrarca greift in seinem Secretum (Dialog mit Augustinus) ähnliche Bilder auf: Rückblick auf das verirrte Leben.
• T. S. Eliot, in „The Waste Land“, verwendet maritime Metaphern ähnlich allegorisch: seelische Erschöpfung als Bild der Moderne.
• Romantik und Moderne: Die Figur des geretteten Schiffbrüchigen (z.B. bei Hölderlin oder Rimbaud) wurde oft als Bild des zerrissenen Menschen zwischen Ich und Welt verwendet.

Zusammenfassung

• Diese drei Verse sind weit mehr als ein atmosphärischer Einstieg. Sie bilden:
• Eine Brücke zwischen persönlicher Angst und universaler Erfahrung,
• einen Schlüssel zur allegorischen Gesamtstruktur der Commedia,
• und ein Beispiel für Dantes Meisterschaft in der Kondensation philosophischer Tiefe, theologischer Wahrheit und dichterischer Bildkraft.

Karl Bartsch (1832-1888)

Und wie, wer athemlos und angstdurchschauert
Entflohn des Meers Gefahren ans Gestad,
Zurückschaut nach der Fluth, die tückisch lauert,

Ludwig Gottfried Blanc (1781-1866)

Und gleich wie der, der mit beklommnem Athem
Sich aus dem Meer gerettet hat ans Ufer,
Sich zu der falschen Fluth kehrt und dahinstarrt:

Bartholomäus von Carneri (1821-1909)

Wie der noch atemlose, kaum dem Meer
Entkommene vom Ufer sich zurück
Wendet zur fürchterlichen Flut und schaut:

Karl Eitner (1805-1884)

Und jenem gleich, der, mit erschöpftem Odem,
Dem Meer entkommen, auf dem Ufer sich
Mit starrem Blick zur drohnden Flut rückwendet:

Friedrich von Falkenhausen (1869-1946)

Wie, wer der Meeresbrandung sich entrang,
Am Strande, keuchend noch, sich rückwärts wendet
Und starrt in des Gewoges wilden Drang,

Konrad Falke (1880-1942)

Und jenem gleich, der - mit erschöpftem Atem
Entronnen aus dem Weltmeer ans Gestade -
Sich kehrt zur tückereichen Flut und hinstarrt:

Otto Gildemeister (1823-1902)

Und wie am Ufer, wann er halberstickt
Der Meeresflut entronnen ist, der Schwimmer
Sich umschaut und aufs droh'nde Wasser blickt,

Bernd von Guseck (1803-1871)

Und wie ein Mann, der athemlos zum Strand
Gekämpst sich hat aus einer Brandung, froh
Sich umschaut, nach der schlimmen Flut gewandt,

August Kopisch (1799-1853)

Und so wie der, der mit erschöpftem Odem
Entronnen aus dem hohen Meer an's Ufer,
Sich wendet zur fahrvollen Fluth und stieret:

Philalethes (1801-1873)

Wie einer, der mit angstgepreßtem Odem,
Dem Meere kaum entronnen, nun vom Strande
Auf die gefahrvoll wilde Flut zurückstarrt;

Georg van Poppel

Und wie ein Mann, in Atemnot, durchschauert,
Aus hoher See gerettet, sich noch wendet
Vom Strand und nach den bösen Wassern lauert,

Konrad zu Putlitz (1855-1924)

Wie einer, der ans Land gerettet ward,
Tief atemholend rückschaut nach der nassen
Gefahr, so hat mein Geist zurückgestarrt,

Karl Streckfuß (1823-1895)

Und so wie atemlos, nach Angst und Schmachten,
Schiffbrüchige vom Strand, entfloh'n der Flut,
Starr rückwärts schauend, ihren Grimm betrachten;

Karl Vossler (1872-1949)

Wie einer, der nach Atem keuchend ringt,
sich aus dem Meer ans Ufer hat gerettet,
zurückschaut auf das fürchterliche Wasser,

Karl Witte (1800-1883)

Wie einer, der mit ganz erschöpftem Atem,
Dem Meer entronnen, das Gestad' erreicht,
Auf die verräterische Flut zurückblickt,

Richard Zoozmann 1907 (1863-1934)

Und wie, wer atemlos und angstdurchschauert
Dem Meer entrann und nun zurückgebogen
Vom Strande späht zur Flut, die tückisch lauert,

Inferno Gesang 1 Verse 19-21 | Inferno Gesang 1 Verse 25-27

Ähnliche Einträge

Dieser Beitrag wurde unter abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.