Allor fu la paura un poco queta,
che nel lago del cor m'era durata
la notte ch'i' passai con tanta pieta.
Da ließ die Furcht ein wenig nach,
die im See des Herzens mir gewährt geblieben war
während der Nacht, die ich mit so viel Mitleid verbrachte.
Philologische Analyse:
1. "Allor fu la paura un poco queta":
• Allor = „da“, temporales Adverb.
• fu ... queta = Präteritum von essere („sein“) + Adjektiv „queta“ („ruhig“, „besänftigt“).
• „paura“ wird grammatikalisch zum Subjekt; personifiziert.
2. "che nel lago del cor m’era durata":
• lago del cor = metaphorischer Ausdruck, „See des Herzens“.
• m’era durata = „hatte in mir angehalten“ (aus mi era durata, ein reflexives Perfekt von durare).
• Das Bild suggeriert eine lang andauernde, stille, doch tiefe emotionale Bewegung.
3. "la notte ch’i’ passai con tanta pieta":
• ch’i’ = elidierte Form von che io, typisch für den toskanischen Stil.
• pieta = Mehrdeutigkeit: kann sowohl „Mitleid“ als auch „fromme Ehrfurcht“, „Erbarmen“ oder sogar „Furcht“ bedeuten.
• Die Nacht ist zeitlich wie symbolisch zu verstehen (siehe allegorische Deutung).
Allegorische Bedeutung:
• Die Terzine symbolisiert den Übergang aus einem Zustand geistiger Verwirrung zu einem ersten Moment der Erleichterung und Orientierung:
• "paura" steht allegorisch für die existenzielle Angst des Sünders, der seine Verirrung erkennt.
• "lago del cor": das Herz als Schauplatz emotionaler und geistlicher Prozesse – der See ist Bild der Tiefe, Ruhe, aber auch Bedrohung.
• "la notte": allegorisch die Zeit der Sünde, der Entfernung von Gott, der spirituellen Dunkelheit.
• "con tanta pieta": evtl. auch im Sinne einer neu erwachten Reue oder göttlichen Gnade.
• Dante beginnt, sich aus der "selva oscura" (dunkler Wald) zu lösen – ein Bild für die Verlorenheit in der Sünde – und wird durch „Virgilio“ (Vernunft, Philosophie) an die Hand genommen.
Theologische und philosophische Dimension:
1. Augustinische Anthropologie:
• Das „Herz“ als Zentrum des Menschen (cor meum inquietum est donec requiescat in te, Conf. I.1).
• Der Mensch ist auf Gott hin geschaffen; die Angst (paura) ist Zeichen seiner Entfernung von der göttlichen Ordnung.
2. Thomistische Seelenlehre:
• Emotionen wie „paura“ und „pietà“ gehören zu den passiones animae (Gemütsbewegungen), können Tugend oder Laster sein je nach Orientierung.
• Die Bewegung von Furcht zu Mitleid impliziert eine Umwendung (konversion), ein erstes Erwachen des moralischen Bewusstseins.
3. Philosophisch-existenzial:
• Das Herz als innerer Raum des Menschen, der Angst und Mitleid durchlebt, evoziert eine tiefe Selbsterkenntnis (vergleichbar mit Heideggers Geworfenheit oder Kierkegaards Angst als Weg zum Glauben).
Poetisch-formale Aspekte:
• Versmaß: Endecasillabo (elfsilbige Zeile), klassisch für die Divina Commedia.
• Reimschema: Terzinen (aba bcb cdc …) – bindet inhaltlich und musikalisch.
• Klang:
• Alliteration (paura ... poco ... pieta) erzeugt Rhythmus.
• lago del cor zeigt innere Bildhaftigkeit, Metapher statt einfacher Emotion.
• Enjambement: flüssiger Gedankengang über die Verse hinweg – unterstützt das psychologische "Abflauen" der Angst.
Historischer und autobiografischer Kontext:
Lebenssituation Dantes:
• Wahrscheinlich 1300 als fingierte Pilgerreise datiert, während Dante selbst sich in einer tiefen Lebenskrise befand (Verlust politischer Macht, Exil, spirituelle Orientierungslosigkeit).
• Diese Verse spiegeln also auch Dantes persönliche seelische Umnachtung und das erste Aufkeimen der Hoffnung.
Einflussquellen:
• Bibel: Nacht = Zustand ohne göttliches Licht; Herz = innerer Mensch.
• Augustinus: Innerlichkeit, Reue, „confessio cordis“.
• Boethius, Cicero, Vergil: philosophisch-literarische Prägungen der Emotion und Selbsterkenntnis.
Rezeption und Wirkung:
Literarisch:
• Diese Zeilen sind zentral für das Motiv des „inneren Aufwachens“ in der Weltliteratur: von Goethe (Fausts Nachtmonolog) bis T.S. Eliot (The Waste Land).
• Besonders das Bild des „Sees im Herzen“ wurde in mystischen und poetischen Kontexten oft aufgegriffen.
Bildende Kunst:
• Illustrationen (z. B. von Gustave Doré) zeigen den Moment der inneren Wandlung im Übergang von der Finsternis zur Führung.
• Moderne Rezeption:
• Die Verszeile wurde in psychologischen, theologischen und literaturwissenschaftlichen Studien als frühe Beschreibung von „Angstverarbeitung“ und spiritueller Neuorientierung interpretiert.
Karl Bartsch (1832-1888)
Da schlief ein wenig mir das Bangen ein,
Das in des Herzens See mir fortgedauert
Die Nacht, die ich verlebt in solcher Pein.
Ludwig Gottfried Blanc (1781-1866)
Da ward die Furcht in mir etwas beruhigt,
Die in des Herzens Weiher angedauert,
Die Nacht, die ich vollbracht in solchem Jammer.
Bartholomäus von Carneri (1821-1909)
Ließ etwas nach die namenlose Furcht,
Die bis ins Innerste mein Herz durchwühlt'
In jener Nacht, verbracht in schwerster Qual.
Karl Eitner (1805-1884)
Geschwichtigt war darauf die Furcht ein wenig,
Die in des Herzens See mir war verblieben
Zur Nacht, die ich verbracht in solcher Angst.
Friedrich von Falkenhausen (1869-1946)
Da legte sich ein wenig, was mit Bangen
Des Herzens See geschwellt die Nacht entlang,
Die so in Angst und Nöten mir vergangen.
Konrad Falke (1880-1942)
Da ward die grause Angst etwas beschwichtigt,
Die tief im See des Herzens mir gewaltet
Die Nacht, die so voller Jammer ich verbrachte;
Otto Gildemeister (1823-1902)
Da war ein wenig von der Furcht vergangen,
Die meines Herzens Tiefe hielt umstrickt
Die Nacht hindurch, die ich verlebt in Bangen.
Bernd von Guseck (1803-1871)
Da ward ein wenig mir die Furcht gestillt
In meines Herzens See, wo sie gebannt
Die ganze Nacht, die mich so bang umhüllt -
August Kopisch (1799-1853)
Zur Stunde war die Furcht ein wenig stille,
Die mir im Born des Herzens war verblieben,
Die Nacht, die ich verbracht mit so viel Pein'gung.
Philalethes (1801-1873)
Nun ward die Furcht ein wenig mir gestillet,
Die in des Herzens tiefstem Grund verweilet,
In jener Nacht, durchlebt bei so viel Leiden.
Georg van Poppel
Da legte sich ein wenig schon das Bangen,
Das mir im See des Herzens hatt gedauert
Die ganze Nacht, in so viel Qual vergangen.
Konrad zu Putlitz (1855-1924)
Geringer fühlt' ich da die Furcht mich drücken,
Die in des Herzens Tiefe mir verharrt
In jeder Nacht, getrübt durch Schicksalstücken. -
Karl Streckfuß (1823-1895)
Da fingen Angst und Furcht zu schwinden an,
Die mir des Herzens Blut erstarren machten,
In jener Nacht, da Grausen mich umfah'n.
Karl Vossler (1872-1949)
Und jetzt entspannte sich die Angst ein wenig,
die mir so jammervoll die ganze Nacht
im Innersten des Herzens sich verkrampfte.
Karl Witte (1800-1883)
Beruhigt wurde da die Furcht ein wenig,
Die in des Herzens See mir angedauert
Die Nacht durch, die so angstvoll ich verbrachte.
Richard Zoozmann 1907 (1863-1934)
Da war ein wenig gleich die Furcht vergangen,
Die auf des Herzens See mir angedauert
Die Nacht, die ich durchlebt in solchem Bangen.