1 A D E G I K L M R S T V W

Inferno 01 / 016-018

dante inferno 1

guardai in alto e vidi le sue spalle
vestite già de' raggi del pianeta
che mena dritto altrui per ogne calle.

Ich blickte auf und sah, dass seine Schultern
bereits in die Strahlen des Planeten gehüllt waren,
der andere auf jedem Weg geradeaus führt.

Philologische Analyse

• „guardai in alto“: wörtlich „ich schaute nach oben“; Ausdruck der Wendung des Blickes vom Dunkel der „selva oscura“ zur Hoffnung.
• „le sue spalle“: „seine Schultern“ – metonymisch für die obere Seite oder das Ende des Hügels (nicht eine Person); „spalle“ = Rücken, symbolisch das Ziel des Aufstiegs.
• „vestite già de’ raggi“: wörtlich „schon bekleidet mit den Strahlen“ – metaphorische Personifikation des Hügels, durch das Licht verklärt.
• „del pianeta“: „des Planeten“ – gemeint ist die Sonne; im mittelalterlichen Weltbild zählte die Sonne zu den Planeten.
• „che mena dritto altrui per ogne calle“: „die einen jeden auf rechtem Wege führt“ – klassische Beschreibung der Sonne als Symbol der göttlichen Vernunft, Orientierung und Wahrheit (vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, I.1).

Allegorische Bedeutung

Diese Stelle ist zentral für die allegorische Struktur von Inferno I:
• Sonne = göttliche Gnade / göttliche Wahrheit / Verstand / Christus. Sie steht für die illuminatio des Menschen durch das göttliche Licht.
• Hügel („colle“) = das Ziel der moralischen und geistigen Läuterung, das der Dichter zu erreichen sucht. Er symbolisiert das „vita virtuosa“, den Zustand der Tugend.
• Der Blick „nach oben“ ist ein Sinnbild für die Bekehrung, also die Umwendung vom Zustand der Sünde (Dunkelwald) hin zur Erlösung.
→ Allegorisch also: Der Mensch (Dante) erkennt das Ziel (Erlösung), das durch die Gnade (Sonne) erleuchtet wird, doch er ist noch nicht fähig, es zu erreichen (siehe die späteren Tiere, die ihn zurückdrängen).

Theologische und philosophische Dimension

• Die Sonne als „planeta“ steht im thomistischen Denken für die natürliche Vernunft, durch die der Mensch zur Wahrheit geführt wird (vgl. Summa Theologiae, I q.12).
• Im Zusammenhang mit der späteren Hilfe durch Vergil (Ratio) und Beatrice (Fides/Gratia) ergibt sich ein soteriologisches Modell: Die Natur (Sonne, Vernunft) kann den Weg zeigen, aber nicht vollenden – dafür braucht es übernatürliche Gnade.
• Die Formulierung „mena dritto altrui per ogne calle“ deutet auf die augustinische Vorstellung von Christus als via, die den Menschen in allen Lebenslagen führen kann (vgl. Io sono la via, la verità e la vita – Joh 14,6).
→ Theologisch steht dieser Lichtblick für den Anfang der Bekehrung, das durch Gnade erweckte Sehen.

Poetisch-formale Aspekte

• Versmaß: Endecasillabo (elfsilbiger Vers), typisch für die terza rima.
• Reimschema: ABA BCB … → In diesem Fall:
• spalle (A)
• pianeta (B)
• calle (A)
• Die Alliteration mena... per ogne calle erzeugt einen weichen, fließenden Klang, der den „rechten Weg“ poetisch nachzeichnet.
• Der Kontrast zwischen dem dunklen „selva oscura“ (Beginn des Canto) und der Lichtmetaphorik dieser Zeilen verstärkt die dramaturgische Spannung.

Historischer und autobiografischer Kontext

• Dante schrieb den Inferno um 1307–1314 im Exil nach seiner Verbannung aus Florenz.
• Die „selva oscura“ ist autobiografisch und allegorisch für seine Lebenskrise zu lesen: politisch, spirituell, intellektuell.
• Der Hügel könnte konkret auch auf das Ideal einer philosophisch-christlichen Ordnung verweisen, das in Florenz durch die Fraktionen (Weiß/Schwarz-Ghibellinen) zerstört war.
• Die Wahl der Sonne als Führerin reflektiert Dantes Sympathie für aristotelisch-thomistische Vernunftlehre (via Vergil) wie auch seine christliche Heilsauffassung.

Rezeption und Wirkung

• Die Lichtmetaphorik dieser Stelle wurde besonders im christlichen Humanismus der Renaissance aufgegriffen: etwa in Petrarcas „Ascent of Mont Ventoux“ (1345), der direkt auf Dante Bezug nimmt.
• In der Moderne interpretiert man diese Stelle oft als eine Vorwegnahme der existenzialistischen „Heilssuche“: Der Mensch steht allein, blickt nach oben, aber wird noch nicht erlöst.
• Künstlerische Darstellungen (z. B. William Blake, Gustave Doré) zeigen den Hügel stets von Sonnenlicht überflutet – ein Symbol der Hoffnung.

Fazit

• Diese drei Verse markieren einen Wendepunkt in Canto I: den ersten Lichtblick inmitten der Verlorenheit. Sie sind reich an:
• Allegorie (Licht der Gnade),
• Philosophie (Vernunft als Wegweiser),
• Poesie (Kontrast Dunkel/Licht),
• Theologie (Unzulänglichkeit des Menschen ohne göttliche Hilfe),
• und Autobiografie (Dantes persönliche Läuterung).

Karl Bartsch (1832-1888)

Da schaut' ich aufwärts, und sah mir entgegen
Den Gipfel glühn von des Planeten Schein,
Der Andre recht geleitet allerwegen.

Ludwig Gottfried Blanc (1781-1866)

Blickt ich empor und sah seine Schultern
Bekleidet mit den Strahlen des Planeten,
Der jeden grade führt auf allen Wegen.

Bartholomäus von Carneri (1821-1909)

Blickt' ich empor, und wie des Hügels Schultern
Umwallt ich sah vom Strahlenkleid des Sterns,
Der andre sicher führt auf jedem Pfad,

Karl Eitner (1805-1884)

Blickt' ich zur Höh' und sah des Hügels Schultern
Umfangen schon von des Planeten Strahlen,
Der Jeden recht auf jeder Straße führt.

Friedrich von Falkenhausen (1869-1946)

Blickt' ich empor und sahe schon im Strahl
Des Wandelsternes seine Scheitel prangen,
Der rechten Weg uns weiset allzumal.

Konrad Falke (1880-1942)

Schaut' ich empor: und sah ich seine Schultern
Umsäumt schon von den Strahlen des Planeten,
Der einen richtig führt auf jedem Pfade.

Otto Gildemeister (1823-1902)

Blickt' ich empor und sah des Hügels Grat
Schon in den Strahlen des Planeten prangen,
Der andre richtig lenkt auf jeden Pfad.

Bernd von Guseck (1803-1871)

Blickt' ich empor und sah des Berges Rücken
Schon mit den Strahlen des Gestirns erfüllt,
Das Jeden pflegt auf rechte Bahn zu schicken.

August Kopisch (1799-1853)

Blickt' ich empor und sah des Hügels Schultern
Bekleidet schon mit des Planeten Strahlen,
Der richtig führt die Menschen allerwegen.

Philalethes (1801-1873)

Blickt' ich empor und sah der Berge Schultern
Bekleidet schon mit des Planeten Strahlen,
Der andre allerwegen recht geleitet;

Georg van Poppel

Blickt ich hinauf, und sah schon seine Hänge
Im Strahlenmantel des Planeten prangen,
Der andre richtig leitet alle Gänge.

Konrad zu Putlitz (1855-1924)

Schaut' ich empor: Der Morgensonne Strahl
Vergoldete schon licht des Berges Rücken,
Der jeden führt gradaus zum rechten Mal.

Karl Streckfuß (1823-1895)

Schaut' ich empor und sah, den Rücken male
Ihm der Planet, der uns auf jeder Bahn
Gerad zum Ziele führt mit seinem Strahle.

Karl Vossler (1872-1949)

blickt ich empor und sah die Kurven schon
des Bergs umhüllt vom strahlenden Gestirn,
das jedem seine Wanderpfade sichert.

Karl Witte (1800-1883)

Blickt' ich empor, und sah des Hügels Schultern
Bekleidet schon mit des Planeten Strahlen,
Der uns den rechten Pfad zeigt allerwege.

Richard Zoozmann 1907 (1863-1934)

Blickt ich empor und sah schon hingebreitet
Auf Bergesschultern den Planeten prangen,
Der uns auf jedem Wege richtig leitet.

Inferno Gesang 1 Verse 13-15 | Inferno Gesang 1 Verse 19-21

Ähnliche Einträge

Dieser Beitrag wurde unter abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.