1 A D E G I K L M R S T V W

Inferno 01 / 013-015

dante inferno 1

Ma poi ch'i' fui al piè d'un colle giunto,
là dove terminava quella valle
che m'avea di paura il cor compunto,

Doch als ich am Fuß eines Hügels angelangt war,
dort, wo jenes Tal endete,
das mir das Herz vor Furcht durchbohrt hatte,

Philologische Analyse

Diese Passage beschreibt den Übergang vom düsteren Wald zum hoffnungsvolleren Anblick eines Hügels – ein entscheidender Wendepunkt in Dantes symbolischer Reise.
1. Lexikalische Ebene
• "Ma poi ch’i’ fui...": archaische Formulierung für „Aber nachdem ich ... war“ – typisch für das Toskanische des 13./14. Jahrhunderts.
• "al piè d’un colle": „am Fuß eines Hügels“, piè (Fuß) ist die apokopierte Form von piede – metrisch motiviert.
• "quella valle / che m’avea di paura il cor compunto": „jenes Tal, das mir vor Angst das Herz durchbohrt hatte“ – hier ist compunto das Partizip von compungere, lat. compungere = „durchbohren, stechen“, moralisch/emotional gemeint.
2. Syntaktische Struktur
Der Satz ist ein kunstvoller, fließender Periodenstil, der typisch für Dantes Erzählweise ist: Der Hauptsatz (Ma poi ch’i’ fui...giunto) wird mit Relativsatz (che m’avea...compunto) erweitert.
3. Lautsymbolik und Rhythmus
• Die Wiederholung der dunklen Vokale a und u in paura, valle, compunto trägt zur Atmosphäre der Furcht bei.
• Die Endreime giunto – compunto folgen dem terza rima-Schema (ABA BCB ...), das Dante erfunden hat.

Allegorische Bedeutung

• Der "colle" (Hügel) steht allegorisch für das Gute, das summum bonum, das Ideal der Tugend oder das Ziel der Selbsterkenntnis und Erlösung.
• Die "valle" (Tal) symbolisiert das irdische Leben in der Sünde, in der Dunkelheit des Nichtwissens oder der Verwirrung.
• Der Moment des „Erreichens des Hügelfußes“ stellt eine erste Wendung dar: Dante beginnt, sich aus der Verirrung zu lösen, es ist der Beginn der conversione – der inneren Umkehr.
• Die „paura“ (Furcht) verweist auf das Bewusstsein der eigenen Schuld – sie ist der Anstoß zur spirituellen Bewegung nach oben.

Theologische und philosophische Dimension

1. Augustinisches Konzept der Umkehr
• Die Passage spiegelt das augustinische Modell der conversio wider: Aus der Dunkelheit des Eigenwillens (superbia) wendet sich die Seele zum Licht Gottes.
• Die Furcht (paura) ist hier als timor Dei (Gottesfurcht) zu lesen – ein heiliger Schrecken, der zur Bekehrung führt.
2. Thomistische Anthropologie
• Der „colle“ könnte als Ziel des menschlichen Intellekts im thomistischen Sinne gedeutet werden: das Streben nach der visio beatifica, dem höchsten Gut.
• Die Angst ist Ausdruck der passiones animae, der seelischen Leidenschaften, die Dante später moralisch klassifiziert.
3. Philosophisch
• In platonischer Lesart ist das Tal das Schattenreich der doxa, der bloßen Meinung; der Hügel der Aufstieg zur episteme, zum wahren Wissen.
• Auch Boethius’ Idee des „Anstiegs der Seele“ aus der Fortuna-Welt in Richtung göttlicher Ordnung klingt hier an.

Poetisch-formale Aspekte

1. Versmaß und Form
• Terzinen (dreizeilige Strophen) mit elfsilbigen Versen (endecasillabi), im Reimschema ABA BCB – Dantes signaturhafte Struktur.
• Der Übergang von der düsteren Einleitung zu einem ersten Hoffnungsschimmer wird durch den Rhythmus und den semantischen Kontrast zwischen valle und colle poetisch inszeniert.
2. Symbolischer Klang
• Die Konsonantenhäufung (compunto, paura, valle) suggeriert Schwere und Bedrängnis, die sich durch das giunto am Hügel etwas lösen – eine klangliche Darstellung innerer Bewegung.
3. Topographisches Bild
• Die Landschaft ist eine psychische Landschaft: Das Tal und der Hügel sind innere Zustände, externalisiert in poetischer Geographie.

Historischer und autobiografischer Kontext

1. Politisches Exil
• Dante schreibt die Commedia im Exil nach 1302. Die dunkle Waldszene reflektiert den moralischen, politischen und geistigen Zusammenbruch, den er nach seiner Verbannung aus Florenz erlebt.
• Der Hügel könnte auch das verlorene Gemeinwesen symbolisieren – das Streben nach einem idealen imperium, wie Dante es in De Monarchia entwirft.
2. Selbstdeutung als Pilger
• Dante spricht im Vita nuova und später in der Commedia von sich selbst als wanderndem Pilger. Der Anfang des Inferno markiert die Krise dieses Pilgers: eine seelische Midlife-Krise (vgl. „Nel mezzo del cammin...“).

Rezeption und Wirkung

1. Theologische Rezeption
• Die Szene wurde häufig als paradigmatische Darstellung der spirituellen Umkehr gedeutet – etwa von christlichen Exegeten im 14.–16. Jahrhundert.
• In der Mystik (z. B. Meister Eckhart, Johannes vom Kreuz) lässt sich ein verwandtes Motiv des Aufstiegs aus Dunkelheit in das Licht finden.
2. Moderne Literatur
• T.S. Eliot (z. B. in The Waste Land) spielt mehrfach auf Dantes erste Canti an – das Motiv des dunklen Waldes als symbolischer Verlust der Ordnung.
• Primo Levi zitiert diesen Anfang in Se questo è un uomo, um seine Höllenerfahrung in Auschwitz zu rahmen.
3. Bildende Kunst
• Viele Darstellungen (Gustave Doré, Botticelli) visualisieren exakt diesen Moment: Dante, vom Dunkel aufschauend zum Licht – eine Ikone der existenziellen Wende.

Karl Bartsch (1832-1888)

Ich kam an eines Hügels Fuß gegangen,
Der an dem Ausgang jenes Thals gelegen,
Das mir die Seel' erfüllt mit Furcht und Bangen.

Ludwig Gottfried Blanc (1781-1866)

Doch als an eines Hügels Fuß ich kam,
Allda wo jenes Thal zu Enge ging,
Das mir mit Furcht das Herz gepeinigt hatte,

Bartholomäus von Carneri (1821-1909)

Doch angelangt an eines Hügels Fuß,
Dem Ende des entsetzenvollen Thals,
Das mein Gemüt ergriff so grauenvoll:

Karl Eitner (1805-1884)

Doch als ich war an eines Hügels Fuß
Gelangt, wo jenes Thal ein Ende nahm,
Das mir mit Furcht das Herz erschüttert hatte:

Friedrich von Falkenhausen (1869-1946)

Doch weil am Fuß von einem Hügelrunde
Ich anlangt', als zu Ende jenes Tal,
Von dessen Grauen mir das Herz so wunde,

Konrad Falke (1880-1942)

Doch wie zum Fuß ich eines Bergs gelangt war
- Dort, wo ihr Ende fand die waldige Talschlucht,
Die mit Entsetzen mir das Herz durchschüttert -,

Otto Gildemeister (1823-1902)

Doch bald, an eines Hügels Fuß gekommen,
Als ich dem Ende jenes Tals genaht,
Das meine Seele hielt von Furcht beklommen,

Bernd von Guseck (1803-1871)

Doch als ich stand an eines Hügels Schwelle,
Wo sich das Thal geendigt meinen Blicken,
Das mir mit Furcht getrübt des Herzens Welle,

August Kopisch (1799-1853)

Doch dann, zu eines Hügels Fuß gelanget,
Da, wo ihr End' erreichte jene Thalkluft,
Die mit Erbangen mir das Herz zerpeinigt:

Philalethes (1801-1873)

Doch da ich zu dem Fuß nun eines Hügels
Gekommen war an jenes Tales Ende,
Das mir mit Furcht das Herz durchschauert hatte,

Georg van Poppel

Doch dann zum Fuß des Hügels angekommen,
Wo dieser abschnitt jenes Tales Enge,
Das mir mit Furcht die Seele hatt beklommen,

Konrad zu Putlitz (1855-1924)

Doch als ich dann zum Fuß des Bergs gekommen,
An dessen Hängen ausläuft jenes Tal,
Das mir gemacht vor Furcht das Herz beklommen,

Karl Streckfuß (1823-1895)

Doch bis zum Fuß des Hügels vorgerückt,
Der an dem Ende lag von jenem Tale,
Das mir mit schwerer Furcht das Herz gedrückt,

Karl Vossler (1872-1949)

Als ich dann aber vor dem Hügel stand,
allwo die Schlucht im Wald sich endlich auftat,
die mir das angstbeklommne Herz bedrängte,

Karl Witte (1800-1883)

Doch, als ich eines Hügels Fuß erreichte,
An welchem jenes Tal zu Ende ging,
Das mir das Herz mit solcher Furcht befangen,

Richard Zoozmann 1907 (1863-1934)

Doch nun an eines Hügels Fuß gekommen,
Wo dieses Tal zu seinem Ende gleitet,
Das mir mit Bangen hielt das Herz beklommen,

Inferno Gesang 1 Verse 10-12 | Inferno Gesang 1 Verse 16-18

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