1 A D E G I K L M R S T V W

Inferno 01 / 010-012

dante inferno 1

Io non so ben ridir com'i' v'intrai,
tant'era pien di sonno a quel punto
che la verace via abbandonai.

Ich weiß nicht mehr genau zu sagen, wie ich hineingeriet,
so sehr war ich an jenem Punkt voller Schlaf,
dass ich den rechten Weg verließ.

Philologische Analyse

„Io non so ben ridir“
– Wörtlich: Ich weiß nicht gut zu sagen – ein Ausdruck der epistemologischen Unsicherheit. Ben ridir spielt mit dem Thema der sprechbaren Wahrheit, das im ganzen Commedia-Projekt zentral ist.
„com'i' v'intrai“
– „v’“ ist ein apokopiertes „vi“ (dorthin), bezogen auf die selva oscura (dunkler Wald) – ein Hinweis auf eine Art existenzielles „Abirren“. Intrare („hineingehen“) hat sowohl physischen als auch geistigen Bedeutungsgehalt.
„tant’era pien di sonno“
– pien di sonno verweist nicht bloß auf physiologische Müdigkeit, sondern auf einen Zustand geistiger Trägheit, spiritueller Unbewusstheit oder moralischer Gleichgültigkeit (accidia im theologischen Sinne).
„che la verace via abbandonai“
– „verace via“ (der wahre Weg): spielt auf Johannes 14,6 an („Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“), also ein christologisch konnotierter Ausdruck. „Abbandonai“ (ich verließ): starke Konnotation von Sünde, Abfall, Apostasie.

Allegorische Bedeutung

• Diese Verse sind Teil des großen allegorischen Rahmens:
• Die selva oscura = das Leben in der Sünde, der moralisch verwirrte Zustand der Menschheit ohne göttliche Führung.
• Die verace via = der Weg der Tugend, der Gnade, letztlich: Christus selbst als „Weg“.
• Der „Schlaf“ = Zustand der Unwissenheit, geistlicher Verblendung oder Trägheit. Dies erinnert an biblische Topoi wie den „Schlaf der Seele“ (vgl. Römer 13:11).
• Der Autor befindet sich zu Beginn der Commedia in einem Zustand der „Verirrung“ (perdita), aus dem er durch göttliche Gnade (vgl. Beatrices Sendung) erlöst werden soll. Der Weg der Commedia ist so auch eine anagogische Rückführung zur Wahrheit.

Theologische und philosophische Dimension

Augustinus und die „Verlorenheit“:
Der Zustand des Schlafes erinnert an Augustinus' Confessiones, wo das Leben in der Sünde als Schlaf oder Traum gedeutet wird. Die Rückkehr zur „verace via“ wäre dann der Weg der gratia (Gnade) zur veritas (Wahrheit).
Thomistische Anthropologie:
Der Mensch wird als viator verstanden – unterwegs zu Gott. Die Verirrung entspricht der Abwendung vom natürlichen und übernatürlichen Ziel. Die selva oscura steht für die privatio boni (Entzug des Guten), also das Böse als Mangel an Orientierung am wahren Ziel.
Philosophisch:
Diese Zeilen stehen in einer mittelalterlich-aristotelischen Psychologie: Schlaf = Verlust von actus rationis, der Vernunftkraft. Dante hat sich nicht aus bewusster Entscheidung verirrt, sondern durch ein „Verdunkeln“ seines geistigen Seinszustands – was auf Schuld, aber auch auf die Notwendigkeit von Gnade verweist.

Poetisch-formale Aspekte

Versmaß:
Die Terzine (Dreizeiler) im Endecasillabo (Elfsilbler), mit Reimschema aba, bcb, cdc usw. Diese ersten Verse sind rhythmisch zurückgenommen – ein ruhiger, fast traumartiger Einstieg.
Klangstruktur:
• Die Alliteration ben – ridir und die Assonanz pien – sonno – punto schaffen einen klanglichen Eindruck von dumpfer Müdigkeit.
• Das Enjambement zwischen den Versen betont die Verlorenheit: die Aussage „ich weiß nicht, wie“ zieht sich über die Zeilen.
Tempusgebrauch:
Interessanterweise im Präsens (non so ben ridir) gegenüber der Vergangenheit (abbandonai): signalisiert, dass das Unwissen immer noch gegenwärtig ist, während das Verlassen bereits geschehen ist.

Historischer und autobiografischer Kontext

• Dantes Exil (ab 1302) bildet den biografischen Hintergrund: Seine politische Verbannung symbolisiert das „Verlassen der geraden Straße“ in einem sehr konkreten Sinn.
• Frühe Neuzeitliche „Selbstverortung“: Dante stilisiert sich hier als ein neuer Aeneas oder Paulus (vgl. Inferno II). Die Selbstdarstellung als unwissend und verirrt ist rhetorisch, aber auch demütig: Sie begründet den Weg zur göttlichen Erleuchtung durch Führung.
• Zeitgeschichtlicher Kontext:
• Der „verlorene Weg“ steht auch für den moralischen und politischen Zustand Italiens im Spätmittelalter, insbesondere der korrupten Kirche und des zersplitterten Gemeinwesens.

Rezeption und Wirkung

• Mittelalterliche Deutungen (z. B. Pietro Alighieri, Boccaccio):
• Diese ersten Verse wurden oft als wörtlicher Ausdruck geistlicher Verlorenheit verstanden, mit Bezügen auf Lasterverfallenheit (accidia, ignorantia).
• Moderne Interpretationen:
• Existenzialistisch: Der Wald als Symbol der inneren Krise (vgl. Sartre, Heidegger).
• Psychoanalytisch: Der Schlaf als Unterbewusstes (Freud, Jung).
• Literarisch: Diese Eröffnung wurde unzählige Male zitiert oder nachgeahmt – von T. S. Eliot über Primo Levi bis zu Heiner Müller.
Einfluss auf die Literatur:
– Die Konzeption des Wanderers in einer dunklen Welt, der durch Offenbarung und Erkenntnis geführt wird, prägt ganze Literaturtraditionen (vgl. Faust, Ulysses, Der Steppenwolf).

Karl Bartsch (1832-1888)

Mich hielt so ganz des Schlafes Macht gebunden,
Daß ich nicht weiß, wie ich mocht' hin gelangen,
Zur Zeit, da mir der wahre Weg entschwunden.

Ludwig Gottfried Blanc (1781-1866)

Wie ich hineingerathen, weiß ich kaum
Zu sagen, so voll Schlafs war ich zur Zeit,
Als ich den rechten Weg verlassen hatte.

Bartholomäus von Carneri (1821-1909)

Weiß nicht, wie dahin ich gekommen bin;
So sehr war ich versenkt in tiefsten Schlaf,
Als von dem wahren Weg ich abgewichen.

Karl Eitner (1805-1884)

Wie ich hineingerieth, nicht kann ich's sagen;
Denn solchermaßen war ich voll des Schlafs,
Als von dem wahren Weg' ich abgekommen.

Friedrich von Falkenhausen (1869-1946)

Kann, wie ich einging, kaum mich mehr entsinnen,
So war ich voller Schlafes da zur Stunde,
Als ich vom wahren Wege wich von hinnen;

Konrad Falke (1880-1942)

Ich weiß nicht so recht zu melden, wie ich eintrat,
So war ich voller Schlaf in jenem Zeitpunkt,
Als ich den wahren Weg ließ seitwärts liegen;

Otto Gildemeister (1823-1902)

Wie ich hineinkam, ist mir kaum bekannt,
So hatte Schlaf die Sinne mir benommen,
Als ich vom wahren Weg mich abgewandt.

Bernd von Guseck (1803-1871)

Wie ich dort hinkam, kann ich nicht erkunden,
So voller Schlaf war ich an jener Stelle,
Wo plötzlich mir der rechte Weg entschwunden;

August Kopisch (1799-1853)

Recht sagen kann ich nicht, wie ich hineinkam;
So war ich voll des Schlafs um jene Stunde,
Als ich verlassen die wahrhafte Straße.

Philalethes (1801-1873)

Wie ich hineinkam, weiß ich nicht zu sagen,
So schlafbefangen war ich zu der Stunde,
Als von dem rechten Weg ich abgewichen.

Georg van Poppel

Wie ich hineinkam, ist mir unverständlich;
So war ich zu der Zeit von Schlaf benommen,
Als mir der wahre Richtweg nicht mehr kenntlich.

Konrad zu Putlitz (1855-1924)

Weiß nicht, wie ich mich in den Wald verrant,
So war vom Schlafe mir der Sinn benommen,
Weiß nicht, wie mir der wahre Weg entschwand.

Karl Streckfuß (1823-1895)

Nicht weiß ich, wie ich mich hineingewunden,
So ganz war ich von tiefem Schlaf berückt,
Zur Zeit, da mir der wahre Weg verschwunden.

Karl Vossler (1872-1949)

Ich weiß nicht recht, wie ich hinein geriet,
war nach und nach so schläferig geworden,
bis daß ich abkam weit vom rechten Weg.

Karl Witte (1800-1883)

Wie ich hineingelangt, kann ich nicht sagen,
So schlafbenommen war ich um die Zeit,
Als ich zuerst den wahren Weg verlassen.

Richard Zoozmann 1907 (1863-1934)

Wie ich hineinkam, kann ich nicht bekunden,
So tief war ich zur Zeit vom Schlaf benommen,
Als meinem Blick der wahre Weg entschwunden.

Inferno Gesang 1 Verse 7-9 | Inferno Gesang 1 Verse 13-15

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