1 A D E G I K L M R S T V W

Inferno 01 / 007-009

dante inferno 1

Tant'è amara che poco è più morte;
ma per trattar del ben ch'i' vi trovai,
dirò de l'altre cose ch'i' v' ho scorte.

So bitter ist sie, dass kaum mehr der Tod es ist;
doch um vom Guten zu berichten, das ich dort fand,
will ich von den anderen Dingen erzählen, die ich dort sah.

Philologische Analyse

„Tant’è amara che poco è più morte“
– „Tant’“ ist eine elliptische Form für „tanto“, intensivierend.
– Die Konstruktion „che poco è più morte“ ist ein hyperbolischer Vergleich: Der Schmerz des Erlebten steht dem Tod nahe, ja ist kaum weniger schlimm als der Tod selbst.
„trattar del ben“
– „Trattar“ im Sinne von „erzählen“, „berichten“, aus dem Lateinischen tractare = „behandeln“; „del ben“ (vom Guten): syntaktisch ungewöhnlich, da es an dieser Stelle nicht konkretisiert wird – das Gute wird später in der Commedia entfaltet.
„ch’i’ vi trovai“ / „ch’i’ v’ho scorte“
– Hier verdichten sich syntaktisch anspruchsvolle Konstruktionen.
– „ch’i’ vi trovai“ (das ich dort fand): „vi“ = dort (in der dunklen Wildnis);
– „ch’i’ v’ho scorte“ (die ich dort erblickte): „scorte“ (gesehen, erkannt), aus dem Verb scorgere, hat Bedeutungsnuancen von erkennen, erahnen, unterscheiden – ein semantischer Hinweis auf den späteren Erkenntnisweg des Dichters.

Allegorische Bedeutung

• Diese Terzine steht im Dienst der Gesamtstruktur der Commedia als allegorischer Reise zur Erlösung.
• Die „dunkle Wildnis“ (selva oscura) symbolisiert den Zustand der Sünde, des moralischen und geistigen Irrtums.
• Das „Bittere“, das „nahe dem Tod“ ist, steht allegorisch für die existenzielle Gefahr der verlorenen Seele, die sich von der rechten Vernunft (retta via) entfernt hat.
• Das „Gute“ verweist auf die Gnade, das Licht der göttlichen Wahrheit, die am Ende der Reise steht. Schon jetzt kündigt sich an: Der Schmerz ist nicht umsonst – er ist Teil eines Läuterungs- und Erkenntnisprozesses.

Theologische und philosophische Dimension

• Nahe dem Tod: In der Scholastik und patristischen Theologie ist der Seelenzustand der Todsünde der eigentliche Tod – „mors animae“, im Gegensatz zur „mors corporis“. Dante spielt hier auf diese Unterscheidung an.
• Der Kontrast zwischen „amaro“ (Bitterkeit) und „ben“ (das Gute) reflektiert die augustinische Unterscheidung zwischen amor sui (Selbstliebe, die zur Hölle führt) und amor Dei (Gottesliebe, die zum Himmel führt).
• Dantes Weg durch die Hölle ist nicht Selbstzweck, sondern dient der Wiedererlangung des verlorenen Telos: beatitudo.

Poetisch-formale Aspekte

Terzinenform (terza rima):
– Die Verse sind in der typischen Reimform aba bcb cdc... gehalten.
– Diese Struktur vermittelt rhythmische Strenge und formale Klarheit – eine formale Transzendenz, die das Chaos der „selva oscura“ überwindet.
Stilmittel:
– Hyperbel: „kaum mehr der Tod“ dramatisiert die existenzielle Not.
– Ironie und Antizipation: Obwohl das Erlebte „bitter“ ist, will der Dichter dennoch „vom Guten berichten“ – das Leid erhält teleologische Bedeutung.
– Temporale und kausale Verkettung: Die Erfahrung der Finsternis dient als notwendiger Vorlauf zur Schau des Lichts (katabasis-anabasis).

Historischer und autobiografischer Kontext

Biografischer Bezug:
– Dante war um 1300 politisch verfolgt und ins Exil gezwungen. Die „selva oscura“ reflektiert eine persönliche wie politische Krise: seine Verbannung aus Florenz, sein spirituelles Taumeln nach dem Tod Beatrices (1290), seine Irrwege in Philosophie und Politik (vgl. Convivio).
Zeitgeschichtlicher Kontext:
– Die „bittere Wildnis“ ist auch ein Symbol für das moralisch-korrupte Italien der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert.
– Die Suche nach dem „ben“ ist Dantes Suche nach Ordnung, Gerechtigkeit, göttlicher Wahrheit in einer dekadenten Welt.

Rezeption und Wirkung

Humanismus und Renaissance:
– Petrarca lobte Dante für seine Tiefe und moralische Ernsthaftigkeit, sah aber kritisch auf dessen mittelalterliche Bildhaftigkeit.
Romantik:
– Die „amarezza“ der selva wurde im 19. Jahrhundert existenziell gedeutet – bei Leopardi, Byron oder Nietzsche als Symbol des Weltschmerzes.
Moderne und Gegenwart:
– T.S. Eliot, Samuel Beckett und Primo Levi beziehen sich auf diesen Abschnitt als Chiffre für existenzielle Grenzerfahrung.
– In der Psychoanalyse (Freud, Jung) wird die selva oscura zum Symbol des Unbewussten, der Schattenreise zur Selbsterkenntnis.

Zusammenfassung

• Diese drei Verse bilden eine programmatische Schwelle:
• Philologisch: komplexe Syntax, semantisch aufgeladen;
• Allegorisch: Krise – Pilgerweg – Erlösung;
• Theologisch: Sünde – Erkenntnis – Gnade;
• Poetisch: Formstruktur als Ausdruck kosmischer Ordnung;
• Historisch: Dantes eigenes Leben und sein politisch-ethisches Italienbild;
• Rezeptionsgeschichtlich: universal interpretierbar als Menschheitsparabel.

Karl Bartsch (1832-1888)

Der Tod sogar ist wohl viel herber nicht,
Doch eh ihr hört, welch Heil ich dort gefunden,
Geb' ich von Andrem was ich sah Bericht.

Ludwig Gottfried Blanc (1781-1866)

So bitter ist es, daß der Tod kaum bittrer.
Doch um des Heils, das ich darin gefunden,
Red' ich von Andrem noch, das ich drin sah.

Bartholomäus von Carneri (1821-1909)

So bitter ist's, daß bittrer kaum der Tod.
Soll melden ich, was dort mir Gutes ward,
Muß ich von anderen Dingen erst berichten.

Karl Eitner (1805-1884)

Nur wenig bittrer ist, denn sie, der Tod.
Doch um vom Heil, das ich dort fand, zu sprechen,
Sag' ich vom Andern, was ich dort erschaut.

Friedrich von Falkenhausen (1869-1946)

So bitter ists, daß bittrer kaum der Tod.
Doch heißts vom Heil, das dort ich fand, beginnen,
Ist noch von andrem Fund zu reden not.

Konrad Falke (1880-1942)

So ist er herb, daß herber kaum der Tod ist -
Doch eh' vom Heil ich handle, das mir wurde,
Red' ich von anderm erst, das dort ich wahrnahm.

Otto Gildemeister (1823-1902)

Kaum minder bitter ist die Todesstunde,
Doch um des Guten willen, das ich fand,
Verschweig' ich auch vom andren nicht die Kunde.

Bernd von Guseck (1803-1871)

So bitter mir, als kaum des Todes Nah'n!
Doch um vom Heil zu reden, dort gefunden,
Sag' ich, was sonst noch meine Augen sah'n.

August Kopisch (1799-1853)

So bitter ist er, daß Tod wenig bitt'rer;
Doch um vom Heil, was ich da fand, zu sprechen,
Meld' andre Ding' ich, die ich dort erblicket.

Philalethes (1801-1873)

So herb, daß herber kaum der Tod mir schiene:
Doch eh' vom Heil, das drin mir ward, ich handle,
Meld' ich erst andres, was ich dort gewahrte.

Georg van Poppel

So schlimm ist er, daß schlimmer kaum das Sterben;
Doch, um vom Heil zu sagen, das ich endlich
Gefunden, sprech ich auch von dem Verderben.

Konrad zu Putlitz (1855-1924)

Kaum daß der Tod uns Bittrer's läßt ertragen.
Doch um des Guten, das ich dorten fand,
Will ich auch andres noch zu künden wagen.

Karl Streckfuß (1823-1895)

Nur wenig bitterer ist selbst der Tod;
Doch um vom Heil, das ich drin fand, zu kunden,
Sag' ich, was sonst sich dort den Blicken bot.

Karl Vossler (1872-1949)

Viel bitterer kann selbst der Tod nicht sein.
Doch um das Gute, wie es dort mir wurde,
zu zeigen, kommt das andre auch zum Wort. -

Karl Witte (1800-1883)

So schwer, daß Tod zu leiden wenig schlimmer.
Doch um das Heil, das ich dort fand, zu künden,
Will, was ich sonst gesehen, ich berichten.

Richard Zoozmann 1907 (1863-1934)

So herb ists, herber kann der Tod nicht schmecken.
Doch um vom Heile, das ich dort gefunden,
Zu melden, muß ich anderes erst entdecken.

Inferno Gesang 1 Verse 4-6 | Inferno Gesang 1 Verse 10-12

Ähnliche Einträge

Dieser Beitrag wurde unter abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.