Ah quanto a dir qual era è cosa dura
esta selva selvaggia e aspra e forte
che nel pensier rinova la paura!
Ach, wie schwer ist es, zu sagen, wie sie war,
diese wilde, raue und dichte Waldung,
die schon im Gedanken Angst erneuert!
Philologische Analyse
„Ah quanto a dir qual era è cosa dura“
• Ah – Interjektion, Ausruf des Schmerzes oder der Ergriffenheit.
• quanto a dir qual era – „wie sehr (es schwer ist), zu sagen, wie er war“ – eine Umstellung (Hyperbaton), typisch für die dichterische Syntax Dantes.
• è cosa dura – wörtlich: „es ist eine harte Sache“ → eine Schwierigkeit, die Erfahrung sprachlich wiederzugeben.
„esta selva selvaggia e aspra e forte“
• selva – „Wald“, traditionell Symbol für Verwirrung, Sünde, Orientierungslosigkeit.
• selvaggia, aspra, forte – eine dreifache Steigerung durch Asyndeton (Fehlen von „und“), klanglich durch die Alliteration (selva selvaggia) und rhythmisch durch die Aneinanderreihung eindrucksvoller Adjektive.
• selvaggia – „wild, ungezähmt“
• aspra – „rau, schroff“ (auch in moralischem Sinne: schwierig, unangenehm)
• forte – „stark, mächtig, gewaltig“
„che nel pensier rinova la paura“
• rinova – „erneuert“: Der bloße Gedanke ruft die Angst wieder hervor.
• la paura – „die Furcht“ → hier beginnt die psychologische und existentielle Dimension: Erinnerung wird zum gegenwärtigen Affekt.
Allegorische Bedeutung
• Die selva oscura (finstere Waldlandschaft), wie sie in diesen Versen beschrieben wird, steht allegorisch für:
• Den Zustand der Seele in der Sünde, vor allem in Form von moralischer Verwirrung oder existenzieller Desorientierung.
• Das Irdische Leben ohne göttliche Führung, ein zentrales Motiv aus Augustinus’ Confessiones, wo das Leben ohne Gott als ein „Irren in der Dunkelheit“ beschrieben wird.
• Die „condizione dell’uomo“ – die menschliche Konstitution nach dem Sündenfall: getrennt von Gott, gefangen in der Weltlichkeit, konfus, ängstlich, verlassen.
• Dante steht am Anfang einer spirituellen Reise: Die Konfrontation mit der selva ist die Konfrontation mit der eigenen Sündhaftigkeit.
Theologische und philosophische Dimension
Sündenlehre und Anthropologie:
• Der Wald ist Ausdruck der confusio peccati – der Verwirrung durch die Sünde. In der scholastischen Anthropologie (v.a. Thomas von Aquin) ist der Mensch ohne Gnade orientierungslos.
Erkenntnistheoretisch:
• Die Unfähigkeit, den Wald zu beschreiben, verweist auf die Grenzen der menschlichen Sprache und Erkenntnis angesichts der Sünde. Der Wald ist eine Wirklichkeit jenseits der Vernunft, vergleichbar mit apophatischen Beschreibungen des Bösen.
• Angst als metaphysisches Zeichen:
• Die Furcht (la paura), die der Gedanke an den Wald hervorruft, ist nicht nur psychologisch, sondern spirituell – sie zeigt die Entfernung von Gott.
Poetisch-formale Aspekte
Terzinenform:
• Der Abschnitt gehört zu einer terzina (dreizeilige Strophe) im Reimschema aba bcb cdc etc. Diese Form ist typisch für die Divina Commedia.
Klangstruktur:
• Die Alliteration von selva selvaggia betont die Wildheit des Waldes. Der asyndetische Dreiklang der Adjektive (selvaggia e aspra e forte) wirkt eindringlich, wie ein Crescendo der Bedrohung.
Tempus und Modus:
• Verwendung des Präsens („è“, „rinova“) für eine Erinnerung aus der Vergangenheit – ein poetisches Mittel zur Vergegenwärtigung, das die subjektive Intensität betont.
Historischer und autobiografischer Kontext
Dantes eigenes Leben:
• Um 1300 (laut Datierung des Werkes) war Dante 35 Jahre alt – „nel mezzo del cammin di nostra vita“. Er wurde aus Florenz verbannt (1302) und durchlebte eine tiefe persönliche und politische Krise.
Politischer Kontext:
• Der „Wald“ kann auch als Symbol für die chaotische politische Landschaft Italiens gedeutet werden, besonders der Machtkampf zwischen Guelfen und Ghibellinen.
Autobiografisch-theologisch:
• Die Beschreibung ist Ausdruck von Dantes eigener spiritueller Krise, ähnlich dem Modell der via purgativa in der mystischen Theologie: der erste Schritt ist das Erkennen der eigenen Verlorenheit.
Rezeption und Wirkung
Augustinus und die Confessiones:
• Die Struktur der Selbsterkenntnis durch Erinnerung an das Verlorensein ist tief augustinisch geprägt.
Mystische Literatur:
• Vergleichbar mit Johannes vom Kreuz’ dunkler Nacht der Seele, die ebenfalls eine Phase spiritueller Leere beschreibt, durch die der Mensch zur Gottesbegegnung geführt wird.
Moderne Literatur:
• T.S. Eliot, James Joyce, Primo Levi – alle haben sich auf diesen Anfang bezogen, sei es strukturell, motivisch oder existentialistisch (z.B. in The Waste Land).
Philosophie:
• Heidegger sah im Anfang von Dantes Commedia eine poetische Ausformung des Geworfen-seins in die Welt (Geworfenheit im Sein und Zeit).
Karl Bartsch (1832-1888)
Ach, wie so schwer und hart ist es zu sagen,
Wie wild der Wald war, wie so rauh und dicht;
Schon die Erinnrung weckt mir neues Zagen.
Ludwig Gottfried Blanc (1781-1866)
Ha! wie schwer ist's zu sagen, wie beschaffen
Der wilde, rauhe, dichte Wald gewesen,
Der mir die Furcht erneut bei der Erinnrung!
Bartholomäus von Carneri (1821-1909)
Wie hart ist es zu sagen, welcher Art
Der wilde Wald war, dicht und so verwachsen,
Daß dran zu denken schon mit Furcht erfüllt!
Karl Eitner (1805-1884)
Schwer kommt es mir an, zu sagen, wie's beschaffen
Mit jenem Wald war, wild und rauh und dicht,
Daß mir Erinnrung schon die Furcht erneuert.
Friedrich von Falkenhausen (1869-1946)
Wie hart ists, ach, von diesem Walde sagen,
Wie wild und rauh und dicht sein Dickicht droht:
Dran denken nur macht noch aufs neu mich zagen!
Konrad Falke (1880-1942)
O, was - zu sagen, wie er war - ist hart doch
Dieser verwachsne Wald, dornig und buschig,
Der beim Drandenken schon erneut das Grauen!
Otto Gildemeister (1823-1902)
Zu sagen, wie er war, ist fürchterlich,
Der wilde Wald im rauhen, dichten Grunde;
Gedenk' ich sein, erneut der Schrecken sich.
Bernd von Guseck (1803-1871)
Ach! eine harte Pflicht ist es, zu sagen,
Wie wild und groß der Wald und rauh die Bahn,
Daß mir im Geiste sich erneut das Zagen -
August Kopisch (1799-1853)
Ach, welch' ein Grau'n ist's, wie er war, zu sagen,
Der Wald, so fremd und störrig und entsetzlich,
Daß im Gedanken er die Angst erneuert:
Philalethes (1801-1873)
Gar hart zu sagen ist's, wie er gewesen,
Der wilde Wald, so rauh und dicht verwachsen,
Daß beim Gedanken sich die Furcht erneuet;
Georg van Poppel
Ach, wie so schwer schreib ich was Näheres nieder
Von diesem Wald, dem wildverwachsnen, herben,
Daß schon Erinnrung zittern macht die Glieder!
Konrad zu Putlitz (1855-1924)
Wie jenes dichte Dickicht ungestalt,
Verrucht und rauh, bedrückt mich schwer zu sagen,
Da jetzt die Furcht noch in mir widerhallt,
Karl Streckfuß (1823-1895)
Wie schwer ist's doch, von diesem Wald zu sagen,
Wie wild, rauh, dicht er war, voll Angst und Not;
Schon der Gedank' erneuert noch mein Zagen.
Karl Vossler (1872-1949)
Wie war der Wald so dicht und dornig,
o weh, daß ich es nicht erzählen mag
und die Erinnerung daran mich schreckt.
Karl Witte (1800-1883)
Wohl fällt mir schwer, zu schildern diesen Wald,
Der wildverwachsen war und voller Grauen
Und in Erinnrung schon die Furcht erneut:
Richard Zoozmann 1907 (1863-1934)
Ha! wie er ausgesehn ist hart zu sagen,
Der wüste Wald mit wildverwachsenen Strecken,
Daß in Gedanken sich erneut mein Zagen.