1 A D E G I K L M R S T V W

Inferno 01 / 001-003

dante inferno 1

Nel mezzo del cammin di nostra vita
mi ritrovai per una selva oscura,
ché la diritta via era smarrita.

In der Mitte des Weges unsres Lebens
Fand ich mich in einem dunklen Walde,
Denn der gerade Weg war verloren gegangen.

Philologische Analyse

"Nel mezzo del cammin di nostra vita"
– Wörtlich: „In der Mitte des Weges unseres Lebens“.
– „Nostra“ = kollektive Perspektive: Dante spricht stellvertretend für die Menschheit (allegorisch), aber auch biografisch (Dante war ca. 35 Jahre alt → Mitte des Lebens gemäß mittelalterlicher Vorstellung).
"mi ritrovai per una selva oscura"
– „Ich fand mich wieder“: Der Gebrauch von „ritrovai“ impliziert ein plötzliches Erwachen oder ein Erkennen eines bereits eingetretenen Zustandes.
– „Selva oscura“: wörtlich „dunkler Wald“, allegorisch: Verwirrung, Sünde, spirituelle Orientierungslosigkeit. Eine Anspielung auf den „Wald der Lüste“ bei Augustinus (Confessiones, Buch VIII).
"ché la diritta via era smarrita"
– „ché“ = „weil, denn“ (archaische Form).
– „la diritta via“ = „der gerade Weg“, häufig verstanden als der Pfad der Tugend, der göttlichen Ordnung oder der Vernunft (vgl. Aristoteles, Thomas von Aquin).
– „era smarrita“: „war verloren“ – passivisch und vergangen → Zustand tiefer Entfremdung.

Allegorische Bedeutung

• Der ganze Eingang ist eine allegorische Darstellung des Menschen, der vom rechten Weg abgekommen ist:
• Die selva oscura steht für die Sünde oder geistige Dunkelheit.
• Die „diritta via“ symbolisiert das Heil, die göttliche Ordnung, das Ziel des Lebens.
• Die Szene ist Ausgangspunkt der Reise durch die drei Jenseitsreiche: Hölle (Inferno), Läuterungsberg (Purgatorio), Paradies (Paradiso).

Theologische und philosophische Dimension

• Augustinische Anthropologie: Der Mensch ist von Natur aus auf Gott hin ausgerichtet (ordo amoris), doch durch den Willensmissbrauch verirrt er sich.
• Thomistische Ethik: Der „diritta via“ kann als via recta rationis gedeutet werden – der durch Vernunft und Gnade erkenn- und begehbare Weg zum höchsten Gut (summum bonum).
• Existenzphilosophisch (modern interpretiert): Die selva oscura wird oft als Symbol für eine existenzielle Krise gesehen – Zweifel, Verzweiflung, Entfremdung.

Poetisch-formale Aspekte

• Terzine (Terzinenreim): aba bcb cdc ...
• Wichtig für die Musikalität und die semantische Verzahnung der Verse.
• Endecasillabo (Elfsilber): Versmaß des klassischen italienischen Epos.
• Klangsymbolik: Die dunklen Vokale („oscura“, „smarrita“) verstärken die Atmosphäre der Verlorenheit.

Historischer und autobiografischer Kontext

• Dante verfasste die Commedia nach seiner Verbannung aus Florenz (1302), was als persönlicher Bruchpunkt gedeutet wird.
• Die „Mitte des Lebens“ verweist auf Dantes biografische und spirituelle Krise, eine Art crisis vitae mediae im mittelalterlichen wie auch später psychologischen Sinne.

Rezeption und Wirkung

• Diese ersten Verse sind in der Literaturgeschichte zu einem ikonischen Bild für die existenzielle Verwirrung des Menschen geworden.
• Sie finden Widerhall bei späteren Autoren: Goethe (Faust), T.S. Eliot (The Waste Land), Beckett u.a.

Karl Bartsch (1832-1888)

Ich fand auf unsers Lebensweges Mitte
In eines Waldes Dunkel mich verschlagen,
Weil sich vom rechten Pfad verirrt die Schritte.

Ludwig Gottfried Blanc (1781-1866)

In unsres Lebensweges Mitt' erfand
In einem dunklen Wald ich mich, dieweil
Der rechte Weg abhanden mir gekommen.

Bartholomäus von Carneri (1821-1909)

In unsers Lebensweges fand
Ich plötzlich mich in einem finstern Wald,
Und hatte den geraden Weg verloren.

Karl Eitner (1805-1884)

Inmitten auf dem Pfade unsres Lebens
Fand ich mich irr' in einem dunklen Walde,
Dieweil des rechten Weges ich verfehlt.

Friedrich von Falkenhausen (1869-1946)

Mittwegs auf unsres Lebens Reise fand
In finstren Waldes Nacht ich mich verschlagen,
Weil mir die Spur vom graden Wege schwand.

Konrad Falke (1880-1942)

Inmitten auf der Fahrt durch unser Leben
Fand ich mich jäh in einem finstern Walde,
Dieweil der recht Weg mir ging verloren.

Otto Gildemeister (1823-1902)

Auf halbem Wege dieser Lebensreise
Fand ich in einem dunklen Walde mich,
Weil ich verirrt war von dem rechten Gleise.

Bernd von Guseck (1803-1871)

In unsers Lebenspfades Mitte fand
Ich mich in einen finstern Wald verschlagen,
Weil ich die rechte Straße nicht erkannt.

August Kopisch (1799-1853)

Auf halbem Wege unsers Erdenlebens
Gewahrt' ich mich in einem finstern Walde,
Indem verfehlet war die grade Straße.

Philalethes (1801-1873)

Als ich auf halbem Weg stand unsers Lebens,
Fand ich mich einst in einem dunklen Walde,
Weil ich vom rechten Weg verirrt mich hatte;

Georg van Poppel

Auf unsres Erdenlebens halbem Wege
Fand ich in einem finstern Wald mich wieder,
Denn ich war abgeirrt vom graden Stege.

Konrad zu Putlitz (1855-1924)

Auf unsres Erdendaseins Wegesmitte
Erfand ich mich in einem dunklen Wald,
Da abgeirrt vom rechten Pfad die Schritte.

Karl Streckfuß (1823-1895)

Auf halbem Weg des Menschenlebens fand
Ich mich in einen finstern Wald verschlagen,
Weil ich vom rechten Weg mich abgewandt.

Karl Vossler (1872-1949)

Dem Höhepunkt des Lebens war ich nahe,
da mich ein dunkler Wald umfing und ich,
verirrt, den rechten Weg nicht wieder fand.

Karl Witte (1800-1883)

Es war in unseres Lebensweges Mitte,
Als ich mich fand in einem dunklen Walde;
Denn abgeirrt war ich vom rechten Wege.

Richard Zoozmann (1863-1934)

Ich fand mich, grad in unseres Lebens Mitte,
In einem finstern Wald zurück, verschlagen,
weil ich vom rechten Pfad gelenkt die Schritte.

Inferno Gesang 1 Verse 4-6

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